Der stürmische Weihnachtsmorgen
Emilia kratzt sich mit einer Hand gedankenverloren am Bauch, während sie träumerisch die tanzenden Schneeflocken beobachtet. Sie steht in ihrem noch zu großen Schlafanzug im Wohnzimmer an der Terrassentür und verfolgt einzelne Flocken mit dem Finger an der Scheibe. Plötzlich kreischt es aus dem Kinderzimmer: „Es schneit, der erste Schnee! Wir können heute Schlittenfahren und einen Schneemann bauen oder ein Iglu!“, ruft Karla, während sie mit strahlendem Gesicht ins Wohnzimmer stürzt.
„Ja, es sieht wundervoll aus, wenn die Welt da draußen weiß wird. Alles wird so friedlich und still. Was für ein Wunder, wir bekommen den ersten Schnee genau an Weihnachten. Doch ihr zwei Süßen zieht euch erst einmal an und dann wird gefrühstückt.“ „Ja Mama,“ antwortet Karla. „Seid so lieb und weckt Paula und Luise auf – und fragt den Papa, ob er …“
Doch Karla ist schon nach oben gestürmt, um ihre großen Schwestern zu wecken. Während Emilia, die kleinste noch völlig in den Anblick der dicken fallenden Schneeflocken versunken ist. Sie haben fast die Größe von Daunenfedern und es schneit so dicht, dass das Ende des Gartens nur noch zu erahnen ist.
„Na Emilia, kannst du dich nicht von dieser Winterwunderwelt trennen?“, wendet sich Rosanna an die 5-jährige, während sie von offenen Küchenbereich zum Fenster geht und sich neben das Kind auf den Boden setzt. Erschrocken entdeckt sie Tränen in Emilias Augen. Sie folgt ihrem Impuls, das Kind zu umarmen, doch Emilia schiebt sie weg: „Mama, dafür haben wir keine Zeit,“ schluchzt sie „das ist nicht gut, wir müssen etwas dagegen tun!“ Völlig verdattert hält Rosanna inne und fühlt ihrer Tochter an die Stirn: „Hoffentlich hat sie kein Fieber – das wäre nicht gut an Weihnachten!“, denkt sie sich. Energisch schiebt Emilia die Hand der Mutter beiseite: „Mama ich bin nicht krank, aber das da draußen ist falsch!“ Wirsch dreht sie sich um und geht hinauf in ihr Zimmer. Rosanna wollte sich gerade wundern, wurde jedoch vom Geräusch der überkochenden Milch aus ihren Gedanken gerissen. Sie springt zum Herd, um schlimmeres Chaos zu vermeiden.
„Das kann ich jetzt nicht gebrauchen. Die letzten Wochen habe ich alles gegeben, damit wir ein schönes Weihnachtsfest haben. Für zusätzliches Putzen habe ich einfach keine Nerven mehr.“
„Ist ja voll krass, wann hat es denn zum Schneien angefangen – als ich heute Nacht heimgekommen bin, war da noch nichts.“ Die zweitälteste kommt an geschlurft. Eingehüllt in ihre Bettdecke, verlaufener Schminke und strubbeligen Haaren, umarmt sie liebevoll ihre Mutter von hinten. „Guten Morgen Luise, ist gestern wohl etwas spät geworden?“, flappst sie fröhlich zurück, während sie die letzten Spuren der Milch-Misere beseitigt. Sie erschrickt, als sie sich umdreht und ihre Tochter anschaut: „Es ist sehr spät geworden! Du hattest versprochen bis spätestens Mitternacht daheim zu sein! Wie spät war es – ein Uhr oder zwei?“ „Mnhmfümpfn“ murmelt Luisa in sich hinein. „Wie bitte FÜNF Uhr morgens? Du weißt schon, dass du mit deinen fünfzehn Jahren rein rechtlich bis 24 Uhr daheim sein musst! – Und wie du aussiehst, geh jetzt und mach dich fertig, wir frühstücken gleich! Dann werden wir, dein Vater und ich ein ernstes Wort mit dir reden müssen!“ Beleidigt zieht sich Luise die Decke enger um die Schultern und wirft ihrer Mutter beim Gehen noch hin: „Hihi, hab mich gestern schon fertig gemacht!“
Rosanna hält mit den Frühstücksvorbereitungen kurz inne und schließt die Augen: „Tief durchatmen und Fassung behalten, lass dir nicht die Weihnachtslaune verderben. Du bist stark, du bist bei dir.“ Sie braucht nicht lange, bis sie die Tränen verdrückt und ihre gute Laune Mine zurückhat - dank jahrelanger Übung.
Paula kommt mit Emilia und Karla an der Hand die Treppe hinunter: „Guten Morgen Mama, schau wie hübsch die beiden heute sind.“ „Guten Morgen Paula, es ist immer so ein Segen, wenn du zu Besuch kommst. Ihr seht alle drei großartig aus. Gleich können wir frühstücken. Sagt mal, habt ihr den Papa heute schon gesehen?“ Paula hat vor einem Jahr ein Stipendium erhalten und zog zum Studieren in eine sechshundert Kilometer entfernte Stadt. Sie ist seitdem ein seltener aber gerne gesehener Gast in ihrem Elternhaus. Auch sie selbst vermisst das Familienleben sehr, wenn sie daheim ist, sorgt sie sich liebevoll um ihre kleinen Schwestern. Emilia und Karla sind vernarrt in ihre erfolgreiche Schwester und nehmen sie umgehend in Beschlag, sobald sie die Schwelle der Haustür überschreitet.
„Ich glaube, ich habe Papa schon gehört. Er kommt sicher bald runter.“, sagt Paula, während sie sich anschickt den Frühstückstisch zu decken. Die Jüngsten sitzen inzwischen wieder am Fenster und bestaunen das Schneegestöber. „Es ist nicht gut, es ist nicht gut, wir müssen etwas machen.“, murmelt Emilia leise vor sich hin. „Das Baby spinnt schon wieder! Mamaaa, kann man gegen ihre blöden Geschichten nicht was machen? Sie macht mir Angst!“, beschwert sich Karla laut und setzt sich auf ihren Platz am Esstisch. Sie ist Emilia zwei Jahre voraus und fest davon überzeugt, dass sich ihre kleine Schwester nicht weiterentwickelt.
„Karla, sie hat einfach viel Fantasie, lass ihr doch ihre Geschichten. Übrigens sind wir mit Tischdecken noch nicht fertig, hilf lieber mit – du kannst das Besteck holen und den Tisch noch ein wenig weihnachtlich dekorieren. Ansonsten müsste alles für ein perfektes Weihnachtsfrühstück bereit sein. Ich schau mal, wo Ernst bleibt.“ Spricht Rosanna, während sie die Küchenschürze ablegt und sich auf den Weg in das obere Stockwerk macht.
Auf dem Weg nach oben kommt ihr Luise mürrisch entgegen. Statt die Haare zu kämmen, hat sie eine Wollmütze aufgesetzt und tief ins Gesicht gezogen. Der Versucht, die Schminke abzuwischen ist ihr nur grob gelungen, was ihre Augenringe umso mehr betont. Schick machen ist nicht unbedingt ihr Ding, sie trägt eine übergroße Hose mit mächtigen ausgefransten Löchern und einen übergroßen Sweater, unter dem sie schier zu verschwinden scheint. „Puh, du solltest noch duschen. Kannst du dich wenigstens heute mir zuliebe etwas netter anziehen?“, blafft Rosanna ihre Tochter an. „Du hast gesagt, ich soll mich fertig machen – bitteschön – fertiger schaff ich es nicht! Außerdem haben wir kein warmes Wasser zum Duschen – ist nicht meine Schuld, wenn ich nicht nach Rosen dufte!“, lässt sie ihre Mutter verdattert auf der Treppe stehen. „Woher sie das nur hat? Wir meinen es doch nur gut mit ihr. Mit dieser ruppigen Art wird Luise nicht weit kommen. Wobei ich es bewundernswert finde; egal welche Konsequenzen sie daraus ziehen muss, sie folgt ihren Impulsen.“ So in Gedanken versunken steigt Rosanna weiter die Treppen hinauf, um ihrem Mann zu suchen.
Der Tisch ist dank Paula inzwischen fertig gedeckt, der Kakao dampft köstlich in der Kanne, die Frühstückseier werden mit goldenen Engeln warmgehalten, frisch aufgebackene Semmeln, Weihnachtsstollen – einfach alles ist für ein leckeres Frühstück aufgeboten. Karla tanzt mit ihrem netten Kleidchen um den Tisch herum und verteilt fröhlich goldene Glitzersterne auf dem Tisch, während sie lautstark „Ihr Kinderlein kooohhhooomet“ vermischt mit „Klihing Glöhöhöckchen“ singt.
Luise hat sich eine Tasse Kaffee geschnappt, liegt mit Kopfhörer und dem Handy auf der Couch - möglichst weit weg von den anderen. Sie berichtet der Welt von ihrer gigantischen Party am Abend zuvor. Und davon, wie ahnungslos ihre Familie von der Welt und überhaupt ist. Wie sehr sie Weihnachten nervt, weil alles so irrsinnig scheinheilig ist. Sie hat keinen Bock auf dieses friedliche Getue: „Ich weiß, das ist safe alles nur ne Lüge. Ist da draußen jemand, der mich vor diesem bescheuerten Zeug retten kann?“
Paula sitzt mit der verängstigten Emilia vor dem Fenster, hält sie fest in den Armen und versucht sie liebevoll zu beruhigen. Inzwischen hat auch Paula ein mulmiges Gefühl, das dichte Schneetreiben wird immer stürmischer. Der Wind treibt die Flocken quer an dem Fenster vorbei und die Schneedecke ist bereits knietief. Die Äste der Bäume werden von der Schneelast gefährlich weit nach unten gedrückt – schnellen vereinzelt wieder hoch, sobald sie der Wind vom Schnee befreit. Sie kann sich nicht erinnern, jemals solch ein Winterwetter erlebt zu haben. Langsam fehlen ihr die Worte, um Emilia zu beruhigen. Sie weiß gar nicht, ob ihr Trost zu ihrer Schwester durchdringt. Plötzlich springt die Kleine auf und lacht los. Hält sich den Bauch und lacht immer mehr. „Ich weiß es jetzt! Ich weiß, was wir tun müssen!“ Japst sie zwischen Lachen und Atem holen.
Karla hält mit ihrer Gesangsdarbietung inne und schaut verdutzt zu ihrer Schwester: „Jetzt spinnt sie total.“ Bemerkt sie abfällig und schiebt sich das fünfte Plätzchen in den Mund. Lässt sich aber von der plötzlichen Fröhlichkeit der Schwester anstecken und prustet vor Lachen die Kekskrümel durch das Zimmer.
Luise ist, trotz lauter Musik im Kopfhörer, am anderen Ende des Wohnzimmers auf den Tumult aufmerksam geworden. Sie hat sich von der Couch erhoben und filmt die kuriose Szene mit dem Handy. Ihre drei Schwester kringeln sich vor Lachen, bekommen kaum noch Luft, während ihnen die Tränen aus den Augen rinnen. Plötzlich hat sie das Gefühl, etwas kitzelt in ihrem Kopf, es fühlt sich an, als ob jemand einen Schalter bei ihr umlegt. In dem Moment ist es mit ihrer Coolness vorbei und auch sie kann sich vor Lachen nicht mehr halten.
Krawumm – mit einem lauten Krachen und Klirren stürzt etwas in das Haus. Schlagartig sind alle still und schauen sich fragend an. Emilia steht als erste auf: „Kommt, wir schauen nach, was passiert ist!“ Sie nimmt ihre großen Schwestern an die Hand und zieht sie Richtung Treppe. Luise schnappt sich Karla und so machen sie sich vier auf dem Weg nach oben. Paula schießen die ärgsten Gedanken durch den Kopf: „Was, wenn ein Baum auf das Haus gefallen ist. Das Dach ist bestimmt kaputt – wir müssen aus dem Haus. Oh nein, dann müssen wir heute schon zur Oma …“ Karla weint, sie hat Angst und will zu ihrer Mama. Luise hebt sie hoch und drückt sie fest an sich. „Keine Angst, wir sind ja da. Wir werden gleich herausfinden, dass nichts Schlimmes passiert ist.“ Versucht sie ihre Schwester zu trösten, doch wirklich überzeugend klingt ihre zittrige Stimme nicht.
„Ihr setzt euch auf die Treppe und wartet, ich gehe allein hoch und schau nach! Wird schon nichts sein, sonst hätte es uns Mama schon gesagt.“ Bestimmt Paula. „Mamaaa,“ schluchzt Karla „wenn ihr was passiert ist?“ „Quatsch, der Mama passiert nichts!“ Versucht Paula sie zu beruhigen. Und während sie mutig die Stufen hochsteigt, kauern sich die Jüngeren, eng aneinandergeschmiegt auf der untersten Treppenstufe zusammen.
Sie sitzen eine gefühlte Ewigkeit auf der Stufe und hören sie die immer leiser werdende Stimme von Paula, die nach ihren Eltern ruft. Dann wird es im oberen Stockwerk still. Keine traut sich etwas zu sagen oder sich zu bewegen. Bis die große Schwester endlich wieder zurückkommt: „Also, das verstehe ich nicht, das Haus ist noch heile, es ist kein Baum oder sonst was darauf gestürzt. Alles ganz normal - aber Mama oder Papa sind auch nicht da. Einfach weg, wie vom Erdboden verschluckt.“
Zeit sich zu wundern bleibt ihnen nicht. In der Sekunde poltert ein Klopfen an der Haustür. Emilia springt erleichtert auf: „Da sind sie ja!“ Sie rennt los, um ihre Eltern hineinzulassen. Doch es sind nicht die Eltern. Es ist eine wundersame Frau, groß und aufrecht steht sie da, eingehüllt in einem üppigen dunkelblauen Samtmantel, der bis zum Boden reicht. Die weite Kapuze, deren Säume mit Goldfäden reich bestickt sind, bedeckt ihren Kopf und die weiten Ärmel verleihen diesem Bild etwas Majestätisches. Zwischen dem offenen Kragen funkeln die herrlichsten Ketten, die bei jeder Bewegung wie Musik klingen. Ungeduldig hebt sie ihre sehnige Hand, in der sie einen mächtigen Stab hält. Denn die vier stehen mit staunenden Augen und offenen Mündern vor ihr - gefesselt von den prächtigen Ringen an ihren Fingern und der großen blauen Kugel, die oben auf dem Stab thront. Gefesselt von der Magie, die von dieser Person ausgeht.
„Steht nicht so albern herum! Lasst mich lieber hinein, bevor ich komplett im Schnee versinke!“ Spricht sie mit dunkler, aber freundlicher Stimme. Die Kinder werfen einen Blick nach draußen. Es schneit immer noch heftig. Schnell machen sie Platz, damit dieses Wesen in das Wohnzimmer schreiten kann. Es ist wahrlich ein Schreiten – als ob ihre Füße den Boden nicht berühren. „Eigentlich sollten da Spuren sein, wenn sie aus diesem Schneegestöber kommt. Aber da ist nicht einmal der kleinste Tropfen am Boden.“, wundert sich Luise. Sie wundert sich noch mehr, als Emilia zu der Frau hingeht, sie umarmt und sich herzlich für ihr Kommen bedankt: „Endlich bist du da, ich habe schon so lange auf dich gewartet.“ Flüstert sie dem wunderlichen Besuch ins Ohr. Die Frau hatte sich inzwischen zu Emilia hinuntergebeugt, um sie zu begrüßen.
„Ja mein Schatz, es war nicht leicht bei diesem Wetter. Aber ihr habt laut genug nach mir gelacht, ich musste einfach vorbeischneien.“ Lächelnd wendet sie sich den anderen zu, die sich zumindest innerlich die Augen reiben: „Ihr habt fast zu viel gelacht, deshalb geschah mir bei der Landung eine kleine Panne. Ich bin zu forsch auf dem Boden aufgekommen – ach, ihr habt bestimmt das Krachen und Klirren vernommen. Das war mein Eisschlitten, er ist in tausend Teile geborsten. Nun gut, es ist nicht das erste Mal, wahrscheinlich soll es so sein. Jetzt haben wir ausreichend Zeit für eure Situation, bis er sich selbst repariert hat.“ Während sie erzählt, lehnt sie ihren Stab an die Wand und legt ihren Mantel ab, den sie achtlos auf die Couch befördert.
„Gut, dass Mama das nicht sieht, sie würde gleich wieder schimpfen“ schießt Paula durch den Kopf. Karla, die sich bisher hinter den großen Schwestern versteckt hatte, fühlt sich mutig genug vorzukommen und fragt leise: „Wer bist du?“ „Hallo Karla, schön dich kennenzulernen. Stimmt, ich habe vergessen mich vorzustellen. Man nennt mich Meredith die fröhliche Zeremonienmeisterin. Ihr könnt mich Medy nennen, schließlich sind wir jetzt Freundinnen.“
„Und warum bist du hier?“ Wieso haben wir dich gerufen?“ „Hat Emilia dich gerufen?“ „Was hat das mit Lachen zu tun?“ „Wo sind unsere Eltern?“ „Wie kann ein Eisschlitten sich selbst reparieren?“ Wie, wenn sich eine Schleuse öffnet, prasseln die aufgestauten Fragen auf die Zeremonienmeisterin ein. Nur Emilia steht höchst zufriedenen da und strahlt über das ganze Gesicht. Meredith nimmt lächelnd ihren goldenen Stab in die Hand und breitet langsam die Arme aus. Diese Geste lässt die Mädchen verstummen. „Frage nie eine Frage, die du nicht selbst beantworten kannst. Habe Geduld und höre zu, denn dann beantworten sich viele Fragen, bevor du sie formulieren kannst.“ Die Mädchen wagen nicht weiter zu fragen. Nun senkt sie die Arme wieder, nimmt die blaue Kugel vom Stab, schiebt den Couchtisch beiseite und setzt sich mitten auf den Wohnzimmerteppich. Dabei gibt sie den Mädchen Zeichen, sich im Kreis um sie herum niederzulassen.
Kichernd folgen sie ihrer Einladung, gespannt, was nun geschehen wird. Lächelnd blickt sie ein Mädchen nach dem anderen an und legt die Kugel sanft auf den Boden. Kaum hat die Kugel den Boden berührt, beginnt sie im Inneren fast unscheinbar zu leuchten. Ein Licht, das geheimnisvoll wie Nordlichter flimmert. „Oh, ist das schön!“ sagt Luisa entzückt. Während sie spricht, wird das Schimmern heller. „Wunderschön; es sieht aus, als wäre in dieser Kugel eine eigene Welt, nur leider ist es dort Nacht.“ Meint Paula berührt. In dem Moment, in dem sie traurig den Satz beendet, erlischt das Licht. „Meine Lieben, in dieser Kugel ist eine eigene Welt. Paula, das hast du richtig erkannt. Diese Welt ist eure Familienseelenwelt. Wenn ihr fröhlich seid, dann wird es dort ein strahlender Tag. Doch wenn ihr traurig seid, fehlt die Energie zum Leuchten. Wichtig ist, dass es euch allen gut geht!“ erklärt Meredith den andächtig lauschenden Mädchen. „Oh man, bei meinen Kopfschmerzen vom Feiern gestern, fühle ich mich nicht gut. Bin ich schuld daran, dass die Kugel heute nicht leuchtet?“ „Oh nein,“ lacht Meredith, „so funktioniert die Magie der Kugel nicht. Es geht um eure Seelenverbindung in der Familie. Da liegt etwas im Argen und Emilia konnte das spüren. Deshalb hat sie mich gerufen, ohne vorher genau zu wissen, wie sie es anstellen soll. Sie ist intuitiv ihrem Impuls gefolgt und hat sich tief im Herzen gewünscht, dass diese Familie wirklich glücklich ist.“ Alle schauen erstaunt Emilia an. „Der kleinste Zwerg hat die größte Weisheit? Aber uns geht es doch gut. Wir haben alles, was wir brauchen. Wir haben uns und unsere Eltern haben uns lieb.“ überlegt Paula, während die anderen zustimmend nicken.
„Scheinbar, ja. Nachdem die Kugel nicht leuchtet – nur scheinbar.“ Meredith macht eine lange Pause, bis sie weiterspricht. „Euch Kindern geht es sehr gut, eure Eltern tun alles für euch, damit es auch so bleibt. Jedoch vergessen sie sich selbst darüber hinaus. Und Paula, du kommst ganz nach deiner Mama – wie geht es dir wirklich?“ Kaum waren diese Worte gesprochen, bekam Paula einen Kloß im Hals. Sie schluckte tapfer und kämpft gegen die aufsteigenden Tränen. „Genauso wie du jetzt, hat Mama ausgeschaut, als ich ihr einen guten Morgen gewünscht hatte.“ Wendet sich Luise nachdenklich an ihre große Schwester. „In letzter Zeit hat sie oft diesen müden Blick gehabt.“
Fragend schauen die Kinder Meredith an. „Schaut nicht auf mich, schaut auf die Kugel, sie gibt euch die richtige Antwort.“ Tatsächlich, das Licht in ihr ist heller geworden. „Euer Verstehen, auch wenn ihr es nicht in Worte fassen könnt, ist ein guter Anfang.“ Karla springt auf und umarmt zuerst Meredith, dann Emilia: „Emmi, du bist gar kein Baby mehr, du bist sooo klug. Toll, dass du Medy gerufen hast.“ „Ich freue mich, dass ich euch helfen konnte. Mein Eisschlitten ist nun wieder heil und für mich ist es Zeit zu gehen.“ „Bitte, bitte bleib noch, wir wollten gerade frühstücken, es ist genug da. Mama und Papa haben bestimmt nichts dagegen.“ Während Karla spricht, rennt sie zum Frühstückstisch. Dort stellt sie mit Entsetzen fest, dass der Kakao und die Eier kalt und die frisch aufgebackenen Semmeln hart und trocken sind. Auch die Marmelade ist eingetrocknet. „Wie lange haben wir auf dem Boden gesessen und geredet? Und wieso sind Mama und Papa noch nicht hier?“ wendet sie sich flehend an Meredith. Die Zeremonienmeisterin, die bereits ihren Mantel anzieht, nimmt Karlas Gesicht sanft in beide Hände und erklärt ihr: „Wir saßen so lange beisammen, wie es bei den meisten Menschen braucht, bis sie annähernd verstehen, was ihr in diesem Kreise verstanden habt. Die Zeit ist nicht wichtig. Eure Eltern werden gleich hier sein – sobald ich gegangen bin.“
„Es wird gut werden, wenn ihr euch, vor allem an Weihnachten, daran erinnert. Emilia, du darfst die Kugel behalten, du wirst gut darauf aufpassen, das weiß ich. Ich behalte euch in meinem Herzen und wünsche euch wunderbare Weihnachten.“ Mit diesen Worten zog sie sich die Kapuze über den Kopf, nahm den Stab in die Hand und schritt zur Tür. Diese öffnete sich wie von Geisterhand, kaum ist Meredith die fröhliche Zeremonienmeisterin auf der Schwelle, gleitet ein wundervoll geschmückter Eisschlitten an, auf dem sie elegant aufspringt, und erhebt sich in den Himmel. Der aus der Geschwindigkeit entstehende Sog, nimmt den Schneesturm mit. Es mutet an, als ob sie auf dem Wind, wie auf einer Welle surft. Kaum ist sie mit den Sturmwolken außer Sicht, rieseln kleine Glitzersterne vom Himmel. Karla und Emilia tanzen vor der Tür und fangen so viele Sterne wie möglich mit ihren Röcken auf.
Paula und Luise stellen währenddessen den Couchtisch auf den gewohnten Platz. Dann geht Luise hinauf, sie hat plötzlich Lust, sich schöner zu kleiden. Angespornt von dem Drang, nach außen zu zeigen, wie sie sich innerlich fühlt: bunt und strahlend. Karla verstreut die Sterne im ganzen Haus, Emilia hat ihr alle überlassen. Sie nimmt sich die blaue Kugel, die jetzt noch heller leuchtet und setzt sich mit ihr vor die Terrassentür. Draußen scheint die Sonne und lässt den frischen Schnee besonders glitzern.
„Können wir jetzt endlich frühstücken, ich habe einen Riesenhunger.“ „Papa, da bist du ja endlich!“ rennt ihm Karla mit ausgebreiteten Armen entgegen. „Wieso endlich? Rosanna hat mir vor fünf Minuten gesagt, dass das Frühstück gleich fertig ist.“ Antwortet er und nimmt seine Tochter liebevoll in den Arm. „Ich habe noch die Warmwasserpumpe eingeschaltet, weil ich kalt duschen musste. Aber beim Schneeschippen konnte ich mich wieder aufwärmen.“ „Emilia, ich glaube, du hast den Schnee lange genug angeschaut. Komm, setz dich an den Tisch. Oh, wo hast du die blaue Kugel her – war das Christkind schon bei dir?“ fragt Rosanna ihre Jüngste. In dem Moment rennt Luisa die Treppe hinunter, auf ihre Mutter zu und nimmt sie in den Arm: „Da bist du endlich wieder, ich habe dich so vermisst!“ Karla zieht ihren Papa zu den beiden und Emilia und Paula schließen sich der Familienumarmung an. „Was ist nur mit euch los? Hat euch der heilige Geist erwischt? Luise, danke, dass du dich so schön angezogen hast und das so schnell. Ich war doch nur eine kurze Zeit bei der Nachbarin und habe ihr schöne Weihnachten gewünscht.“ Meint Rosanna und tauscht verwunderte Blicke mit ihrem Mann.
Die Schwestern grinsen sich wissend an. „Nicht der heilige Geist, so etwas ähnliches. Eine fröhliche Zeremin…, Zeremiome… --ach, Medy war mit ihrem Eisschlitten da und …“ versucht Emilia zu erklären. Doch ihre Mutter unterbricht sie: „Setzt euch an den Tisch, bevor der Kakao kalt wird, dann könnt ihr mir alles erzählen.“
So köstlich hat ihnen der Schokotrunk noch nie geschmeckt, sie zwinkern sich gegenseitig zu und wundern sich nicht darüber, dass er sowie die Eier noch warm sind, die Semmeln frisch – als ob Meredith nie da gewesen wäre. Was hatte sie, bevor sie ging gesagt: „Die Zeit spielt keine Rolle.“